Pläne schmieden oder den Moment leben?

Unser Verstand will immer einen Plan haben: Erst tun wir dies, dann das. Dabei verlieren wir leicht den Bezug zur Gegenwart. Wenn wir stattdessen auf unser Gefühl hören, sind wir im Augenblick präsent. Es geht dabei um das „Einlassen“, darum, den Moment anzunehmen, wie er ist – und nicht, wie er zu sein hat.

Wenn ich im Kopf habe: Ich gehe heute wandern, dann hat mein Verstand eine klare Vorstellung davon, wie die Wanderung abzulaufen hat: Route bestimmen, Einkehrmöglichkeiten recherchieren, einen Parkplatz finden. Dabei lasse ich völlig außer Acht, was mir an diesem Tag wirklich guttut.

Ein Zielpunkt festzulegen ist hilfreich. Dennoch ist es wichtig, offen für Abweichungen und Planänderungen zu bleiben. Auf dem Weg zu meinem Ziel kann ich vieles entdecken, was für mich genau jetzt wichtig und richtig ist. Der Weg ist wahrhaftig das Ziel.

Der Weg ist das Ziel – aber diesmal wirklich

In diesem Sinn bekommt der Ausdruck „Der Weg ist das Ziel“ eine neue Bedeutung. Sie wird greifbarer. Die Abenteuer liegen auf und neben dem Weg. Ziele zu definieren ist wichtig – und dennoch ist der Weg dorthin oft viel lehrreicher und wertvoller als das Ziel selbst.

Diese Erfahrung durfte ich auf dem Jakobsweg machen. Dort hat jeder Pilger das Ziel, Santiago de Compostela eines Tages zu erreichen. Der eine braucht dafür eine Woche, der andere zehn Jahre, weil er zum Beispiel jedes Jahr nur eine Woche läuft und in seiner Heimat Norwegen gestartet ist. Das gemeinsame Ziel verbindet alle Pilger – und doch geht jeder seinen ganz individuellen Weg.

Was wäre, wenn wir direkt am Ziel wären?

Stellen wir uns vor, wir gelangen direkt von unserem Startpunkt zu unserem Ziel. Welchen Sinn hätte dann der Weg? Uns würden die lustigen, traurigen, wütenden und überraschenden Begegnungen mit Menschen, Tieren und der Natur fehlen. Für mich sind es genau diese kostbaren Momente, die ich nicht erwartet habe.

Eine unerwartete Begegnung am Camino del Norte

Ein Beispiel dazu: Auf einem Abschnitt des Camino del Norte, der direkt an der Küste entlangführt, laufe ich seit drei Stunden bergauf und bergab. Mein Plan war, an der erstmöglichen Station zu frühstücken. Denn ich genieße es, nach dem Aufstehen etwa fünf Kilometer zu laufen, bevor ich das typische spanische Frühstück – Café con leche und tostada con tomate – zu mir nehme. Es schmeckt einfach besser.

Was ich nicht einkalkuliert habe: Das Café hat nicht geöffnet. Das bedeutet, weitere zehn Kilometer ohne mein geliebtes Frühstück zu marschieren. Dementsprechend ist meine Freude am Laufen kurz verschwunden. Stattdessen meldet sich die dreijährige Milena in mir zu Wort: „Ich laufe keinen Schritt mehr, das ist alles doof!“

Und dann – plötzlich – taucht hinter der nächsten Kurve ein lächelnder Jurastudent aus Frankfurt auf. Mein erster Gedanke: Warum in Gottes Namen ist der so gut drauf? Hat er ein Café gefunden, das ich übersehen habe? Es kann nur das sein. Denn ohne Kaffee kann kein Deutscher so freundlich aussehen.

Ich erzähle ihm meine Frühstücksproblematik. Daraufhin erwidert er, dass mein Problem schnell gelöst sei: Laut seinem Reiseführer befindet sich das nächste Café in nur einem Kilometer Entfernung. Meine kleine bockige Milena verwandelt sich blitzartig in ein fröhlich lachendes Mädchen. Wir haben uns von Anfang an gut verstanden und sind den restlichen Tag mit viel Freude zusammengelaufen.

Die kleinen Wunder des Weges

Kurz vor dem Einschlafen lächle ich und denke: Herrlich – der Camino gibt dir das, was du brauchst. Du brauchst lediglich weiterzulaufen, um zu sehen, was sich hinter der nächsten Kurve befindet. Bleibst du stehen, wirst du es nie herausfinden.

Die Abenteuer findest du auf dem Weg, nicht am Ziel.

In diesem Sinne: Buen Camino!